Zur Krise in der Volkswirtschaftslehre: Eine immer wieder geführte und unendliche Diskussion…

Die Klage über die Unfruchtbarkeit der Volkswirtschaftslehre ist keineswegs neuen Datums. Auf den deutschen Kathedern ertönt sie seit Jahrzehnten, und ihr sichtbarster Ausfluß ist das Aufkommen der „historischen Schule“. Man hat seiner Zeit geglaubt, das Ausbleiben exakter Ergebnisse darauf zurückführen zu sollen, daß hier der notwendige Zusammenhang zwischen Theorie und Praxis fehle. Wer die Wirtschaft und die Regeln, die sie beherrschen, erkennen und formulieren soll, der müsse, so meinte man, zunächst einmal die geschichtliche Wirtschaftsentwicklung studieren, um im Wege der Vergleichung konkreter Einzelvorgänge induktiv zu den allgemeinen Regeln vorzudringen, denen das wirtschaftliche Handeln der Menschen unterworfen ist.

Durch diese Abkehr vom Theoretischen zum Praktischen ist aber gerade das Gegenteil des angestrebten Zwecks erreicht worden. Die Volkswirtschaftslehre kam zu keiner Vertiefung, sondern ganz im Gegenteil zu einer erschreckenden Verflachung. Sie löste sich in sogenannte Tatsachen-Kenntnis, in unzählige wirtschaftsgeschichtliche Monographien auf und hielt gewaltige Mengen „Materials“ in der Hand, mit denen sie nichts anzufangen wußte, weil der große leitende Gedanke fehlte, der das geistige Band um die einzelnen Stücke hätte schlingen können. So wurde aus der Nationalökonomie eine „trostlose Wissenschaft“.

Diesen offensichtlichen Verfall führt man seit dem ersten Jahrzehnt des jetzigen Jahrhunderts vielfach darauf zurück, daß die historische Schule den Begriff „Wirtschaftspraxis“ falsch aufgefaßt habe. Zuzustimmen sei ihr zwar im Grundgedanken: Für das Theoretisch-Dogmatische sei in der Tat kein Platz, so lange die Wirklichkeit nicht genügend erforscht und man nicht im Stande sei, die exakte Probe auf das spekulative Exempel zu machen. Aber es handle sich nicht, wie man so lange geglaubt habe, um die geschichtliche, sondern um die zeitgenössische Wirklichkeit. Der Volkswirt habe sich nicht in der Vergangenheit, sondern in der Gegenwart umzusehen und sich entschlossen der Wirtschaftskunde und der Wirtschaftsstatistik zuzuwenden. So kam eine „praktische Volkswirtschaftslehre“ neben der „allgemeinen“ oder „theoretischen“ auf. Aber das Resultat war genau so unbefriedigend wie die Erbschaft, welche die historische Schule hinterlassen hatte. Wieder zersplitterte sich die Nationalökonomie in eine Unzahl von Teildisziplinen, indem sie mit Eifer jede Einzelerscheinung des gewerblichen Lebens „wissenschaftlich“ zu ergründen suchte. (…) Die Ansicht, die Volkswirtschaftslehre sei eine rein empirische Disziplin wie die Erdkunde und die Geschichte, breitet sich immer mehr aus, und nur noch wenige erinnern sich, daß man es hier nicht mit einer Lehre von der Wirtschaft, sondern mit einer Lehre von der Gesetzmäßigkeit in der Wirtschaft zu tun hat. (…) 

Aber ist der Bankerott einer Wissenschaft wirklich schon dann besiegelt, wenn es in der Vergangenheit nicht gelungen ist, zu einwandfreien Feststellungen zu gelangen? Darf man aus der früheren Ergebnislosigkeit ohne weiteres auf die Unmöglichkeit künftiger Ergebnisse schließen? (…) Es rächt sich hier der Mangel, an dem die Volkswirtschaftslehre seit jeher krankt: die Abneigung oder die Unfähigkeit, abstrakt und doch logisch zu denken. So lange es eine Volkswirtschaftslehre gibt, tastet sie sich an dem Leitseil der Beobachtung vorwärts, baut sie ihr Lehrgebäude auf dem Boden der Tatsachen-Ermittelung auf; die historische Schule und die sogenannte praktische Nationalökonomie haben diese Konkretisierung der Volkswirtschaftslehre nicht geschaffen, sondern nur grenzenlos übertrieben. Freilich kann man auch auf diesem Wege, mittels der experimentellen Methode, zu brauchbaren Resultaten gelangen. Aber nur dann, wenn die Beobachtung fortgesetzt vom abstrakten Denken überprüft, auf Schritt und Tritt verstandesmäßig kontrolliert wird. Denn andernfalls beobachtet man falsch oder unvollständig.

aus: Lansburgh, Alfred (1922): Von der Arbeit, In: Die Bank, 1922, 1. Band, S. 415-425

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